„Versuchen wir, das Beste eines jeden Menschen zu erkennen, den anderen im bestmöglichen Licht zu sehen. Diese Einstellung erzeugt sofort ein Gefühl der Nähe, eine Art Geneigtheit, eine Verbindung." – Dalai Lama –
Martin Schreiber ist seit über 30 Jahren diplomierter Sozialarbeiter und seit 2016 Geschäftsführer der Lebenshilfe Tangerhütte/ Stendal. 2024 räumt er seinen Stuhl und übergibt die Geschäftsführung an seine Nachfolgerin Dörthe Wallbaum. Der Behindertenarbeit bleibt Schreiber aber erhalten – als Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Sachsen-Anhalt (LAG WfbM) verlagert er seine Tätigkeiten von der praktischen Arbeit an der Basis auf die gesellschaftspolitische Ebene.
Herr Schreiber, wie sind Sie zur Lebenshilfe Tangerhütte/Stendal gekommen? Das war ein langer Weg. Ich bin Baden-Württemberger und habe 1984 mein Studium in Stuttgart als Diplom-Sozialarbeiter abgeschlossen. Schon während dieser Zeit war für mich klar, dass ich mit Menschen, die eine geistige oder körperliche Behinderung haben, arbeiten wollte. Damals habe ich bereits Kurse für behinderte Menschen an der Volkshochschule gegeben.
Später habe ich mehrere Jahre als Hausleiter behinderte Kinder und Jugendliche betreut. Es folgten Stationen in Bremerhaven und Bremen, bevor ich eine Auszeit von 12 Jahren nahm. Während meine Frau ihrem Beruf nachging, habe ich unsere drei Kinder betreut. Nach meinem Wiedereinstieg ins Berufsleben arbeitete ich erst in Wernigerode, bis ich 2010 als Wohnverbundleiter bei der Lebenshilfe Tangerhütte angefangen habe. Sechs Jahre später wurde ich Geschäftsführer. Und seit März 2023 bin ich Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Sachsen-Anhalt.
Was reizt Sie an Ihrer Arbeit mit oder für Menschen mit Behinderung? Zunächst einmal ist es mir wichtig, zu sagen, dass Menschen mit Behinderung etwas ganz Besonderes sind, die aber leider noch immer abseits der Gesellschaft stehen. Sie haben – trotz vieler Veränderungen – immer noch keine Lobby. Weder im politischen noch im gesellschaftlichen Bereich. Es fehlt immer noch die Akzeptanz für behinderte Menschen.
Das müssen Sie erklären. Gern. Nehmen wir zum Beispiel die Corona-Krise. Da flossen Milliarden Euro Unterstützungsgelder. Es gab Geld für kriselnde Unternehmen. Der Mittelstand wurde finanziell unterstützt. Geld floss in Krankenhäuser und Altenheime. Gefühlt gab es für jeden staatliche Hilfen. Ausnahme: Die Menschen mit Behinderung wurden zunächst vergessen. Nach dem Motto: Das brauchen die nicht. Bei derartigen Themen muss die Politik umdenken…
…eine Ihrer Aufgaben als LAG-Vorsitzender, oder? Sicher. Nur, mein Ansatz ist ein anderer: Unsere Landtagspolitiker sind mit so vielen unterschiedlichen Themen befasst, dass es oft an der Zeit fehlt. Deshalb müssen wir als LAG WfbM mit den unteren Verwaltungsebenen noch enger kooperieren und zusammenarbeiten, damit die Sensibilität für Behinderten-Themen verstärkt wird.
Kehren wir zurück zur Lebenshilfe Tangerhütte. Wie war es, als Sie dort angefangen haben? Als ich zum ersten Mal in die Wohnstätten kam, wäre ich beinahe umgefallen. Es gab noch große Gemeinschaftsküchen, Doppelzimmer. Was in anderen Einrichtungen bundesweit längst üblich war, fehlte hier an allen Ecken und Kanten. Mir war klar, wenn ich etwas bewirken wollte, musste ich mit den Räumlichkeiten anfangen.
Und, was haben Sie unternommen? Wir haben eine neue Wohnstätte ausschließlich mit Einzelzimmern und integrierten Küchen errichtet. Und die anderen Häuser wurden entsprechend umgebaut. Jeder hatte nun sein eigenes Zimmer. Ich kann mich bis heute noch gut an die Reaktionen der Bewohner erinnern. Das war schon sehr emotional.
Erzählen Sie bitte. Ein Bewohner kam auf mich zu und sagte: „Herr Schreiber, versprechen Sie mir, dass ich nie wieder aus diesem Zimmer ausziehen muss. 30 Jahre musste ich mit jemandem zusammenleben. Wir mochten uns gegenseitig nicht. Jetzt kann ich endlich mein eigenes Leben leben.“
Oder: Wir hatten eine schwierige Bewohnerin mit hohen psychischen Einschränkungen. Außer mit ihren Puppen, sprach sie mit niemandem. Dann bezog sie ihr eigenes Zimmer und plötzlich begann sie mit anderen Menschen zu reden. Es war unglaublich. Derartige Veränderungen bei unseren behinderten Menschen haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass jeder Kampf für verbesserte Lebensbedingungen, der uns anvertrauten Menschen, sich lohnt und ausgefochten werden muss. Ich erinnere mich noch gut daran, wie schwierig es war, als wir die Doppelzimmer auf Appartements umstellen wollten. Über Jahre hat sich damals die Sozialagentur als Kostenträger keinen Millimeter bewegt, bis dann endlich ein Durchbruch erzielt wurde.
Kritiker werfen den Werkstätten vor, sie würden anderen kleineren Firmen oder Unternehmen die Aufträge abjagen. Werkstätten könnten durch deutlich geringere Löhne kostengünstiger kalkulieren, lautet der Vorwurf. Das sehe ich nicht so. Selbstverständlich beteiligen wir uns mit unseren Außenarbeitsplätzen im „Garten- und Landschaftsbau“ zum Beispiel bei Ausschreibungen der Stadt. Aber, anders als andere Betriebe können wir uns nur bei Rasenmähen, Laubharken und anderen einfachen Arbeiten beteiligen. Ansonsten sind wir raus. Und seien wir ehrlich: In Stendal und Umgebung ist durch uns noch keine Landschaftsbau- oder Gartenfirma pleitegegangen. Im Gegenteil: Die meisten sind immer größer geworden.
Noch etwas ist wichtig: Die Werkstätten zeichnen sich dadurch aus, dass sie Arbeiten leisten können, die andere Firmen nicht mehr im Angebot haben: Duschköpfe zusammenbauen. Alles nicht digitalisierte Handwerk. Näharbeiten für Feuerwehrhelme oder Waschen und Bügeln. Das sind doch Dinge, die heute kaum noch jemand machen will. Sich hier für die Zukunft aufzustellen, zum Beispiel durch moderne Werkstätten, das ist die Herausforderung für die Zukunft.
Sie betreiben aber auch eigene kleine Firmen, wie Kaffeeröstereien, Lebensmittelläden oder ein Tagungs- und Veranstaltungszentrum. Auch das ist richtig. Überall im Land gehen die Träger diesen Weg, um neue Arbeitsfelder für behinderte Menschen anbieten zu können. Ganz wichtig ist aber, dass all diese Betriebe wie eine Werkstatt geführt werden, nicht wie eine wirtschaftlich denkende Firma. Das ist überlebenswichtig für die Einrichtungen und ihre behinderten Menschen. Niemand kann voraussagen, wie sich die Auftragslage mit Arbeiten in den Werkstätten, aber auch außerhalb in den nächsten Jahren entwickelt. Also braucht es Alternativen, die wir Schritt für Schritt umsetzen wollen.
Zu den Aufgaben der Träger und ihren Werkstätten gehört auch, behinderte Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen… Das ist ebenfalls eine Herausforderung. Selbstverständlich wäre es gut, wenn mehr Menschen mit Handicap in der freien Wirtschaft arbeiten könnten. Und es gibt auch positive Beispiele, zum Beispiel im Einzelhandel. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass viele behinderte Frauen und Männer in der freien Wirtschaft dem Leistungsdruck nicht standhalten, Angst haben, sich nicht behaupten zu können oder die Arbeitsplatzgarantie einer Werkstätte verloren geht.
Insofern ist hier noch viel Arbeit zu leisten - von möglichen Arbeitgebern und uns. Lassen Sie mich noch etwas sagen: Wir begleiten schon seit Jahren etwa 30 Werkstatt-Beschäftigte mit einem Jobcoach erfolgreich auf sogenannten „Außenarbeitsplätzen“ der Werkstätten für behinderte Menschen. Diese Menschen sind direkt in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes tätig. Leider wird der Coach vom Träger nicht refinanziert. Dieses Konzept ermöglicht aber auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig zu sein.
Dabei dürfte auch die Frage nach dem Mindestlohn für behinderte Menschen eine Rolle spielen. Wenn sich die Politik ändert, spricht nichts gegen den Mindestlohn für Menschen mit Behinderung. Bedenken Sie, dass mit der Einführung eines Mindestlohns in den Werkstätten viele andere soziale Hilfen wegfallen würden. Es könnte also passieren, dass unsere Mitarbeiter dann an die finanziellen Grenzen stoßen, ab denen der Staat wieder mitkassiert. Unsere Werkstattmitarbeiter arbeiten in einem geschützten Raum, bei denen die Rechte und Pflichten eines normalen Arbeitnehmers nicht vollumfänglich zutreffen. Zum Beispiel können Werkstattmitarbeiter nicht gekündigt werden. Außerdem können sich Werkstätten einen Mindestlohn überhaupt nicht leisten.
… Nanu? Die Rechnung ist einfach: Eine Werkstatt ist eine Mischung aus sozialer Einrichtung, die Kostensätze für das Fachpersonal und die Sachkosten erhält, die vom Staat gezahlt werden. Gleichzeitig ist sie aber auch ein wirtschaftlicher Betrieb, der Gewinne erzielt, mit denen er die Löhne der Menschen mit Behinderung der Werkstatt bezahlen muss, die solidarisch bezahlt werden. Wir bekommen Aufträge und verdienen damit Geld. Der Mindestlohn würde für uns bedeuten, dass wir höhere Preise verlangen müssen. Die Folge wären weniger oder gar keine Aufträge. Viele Werkstätten können dann nicht mehr bestehen bleiben. Also braucht es Modelle, die allen Seiten gerecht werden – den Menschen mit Behinderung, den Sozialversicherungen und den Werkstätten.
Was ist für Sie die größte Herausforderung in den nächsten Jahren? Es gibt, wie ich bereits sagte, viele Herausforderungen. Was aber oft überhaupt nicht in den Fokus der Öffentlichkeit rückt: Die Zahl psychisch kranker Menschen steigt massiv an. Nicht zu vergessen, diejenigen, die in ihrem Leben – egal aus welchen Gründen – „gestrandet“ sind. Diesen Frauen und Männern können und müssen wir neue Perspektiven und Chancen für ein anderes Arbeitsleben eröffnen. Das wird eine der größten Aufgaben der Gesellschaft und der sozialen Einrichtungen in der Zukunft sein.
Eine letzte Frage: Sie hören 2024 als Geschäftsführer bei der Lebenshilfe auf. Wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus? Lassen Sie es mich mit einem Bild beschreiben: „Vor 30 Jahren lebten Menschen mit Behinderung weit außerhalb einer Stadt. Mittlerweile sind sie in den Vororten angekommen. Ich hoffe, dass in naher Zukunft die Innenstadt erreicht wird.“