„Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind." - J.K. Rowling -
Jeder, der am Pförtner der Werkstatt der Stiftung „Samariterherberge“ in Merseburg vorbeikommt, kennt ihn: René Lindner. Seit nunmehr 30 Jahren arbeitet und engagiert er sich für die behinderten Menschen, die in den drei Werkstätten der Samariterherberge arbeiten. Aber auch den Mitarbeitern und der Leitung der Stiftung, die unter dem Dach der Diakonie agiert, ist René Lindner kein Unbekannter. Kein Wunder, ist er doch seit vielen Jahren im Werkstattrat der Einrichtung engagiert. Anfangs lediglich als einfaches Mitglied. Seit mehreren Jahren aber ist er der Vorsitzende. Nunmehr vertritt er für über 300 Menschen mit Behinderung, die in den drei Werkstätten arbeiten, deren Interessen. Das bedeutet ein hohes Maß an Verantwortung, Kompromissbereitschaft und Transparenz.
Rückblick: Seit seiner Geburt 1976 leidet René Lindner unter einer spastischen Tetraparese. Eine unheilbare Krankheit, die zu zeitweiligen Lähmungen aller vier Extremitäten führt. Auch die Hals- und Gesichtsmuskulatur können betroffen sein. Grund für die Erkrankung bei René Lindner war Sauerstoffmangel bei seiner Geburt. „Die Krankheit wird mich mein ganzes Leben begleiten. Ich habe gelernt, damit umzugehen, aber es bleibt eben doch ein Handicap, das sich in vielen kleinen und großen Dingen niederschlägt.“ Zum Beispiel darf René aufgrund der Krankheit keinen Führerschein machen und eigenständig Auto fahren. Auch sind seine Chancen, auf dem sogenannten „ersten Arbeitsmarkt“ eine Stelle zu finden, relativ gering.
So kam es, dass René bereits mit 17 Jahren zur Stiftung Samariterherberge kam. Nach dem Eingangsverfahren begann er zwei Monate später mit dem Arbeitstraining, wie es damals noch hieß. „Damals“, so erinnert er sich, „gab es hier nur die Weberei. Hier wurde Schafswolle gewaschen, gekämmt und für die weitere Verarbeitung vorbereitet.“ Das Arbeitstraining dauerte knapp zwei Jahre und endete am 31. Mai 1995.
„Den Begriff Berufsbildungsbereich gibt es erst seit dem Jahr 2000“, erzählt der Sozialarbeiter Thomas Wildenauer von der Stiftung Samariterherberge. „Mit dem neuen Begriff wurde bundesweit auch eingeführt, dass die Suche nach der geeigneten Tätigkeit für Menschen mit Behinderung qualifizierter wurde. Die Menschen mit Behinderungen, die in einer Einrichtung anfingen, konnten sich in den ersten zwei Jahren in den verschiedenen Werkstätten des Trägers ausprobieren und sich dann für einen Bereich entscheiden.“
René Lindner nicht, dennoch arbeitete er in unterschiedlichen Werkstätten der Samariterherberge. Unter anderem stand er in der Montageabteilung an einer Spritzgussmaschine, die Stromleiter für Weidezäune herstellte.
Auch wurde er einmal in ein Förderungsprogramm in Heidelberg aufgenommen und beschäftigte sich dort mit Mediengestaltung am Computer. Aber die Arbeit in den Werkstätten der Samariterherberge hatte bei René Lindner immer Priorität. Dank seiner ruhigen und besonnenen Art wechselte er Ende der 1990er Jahre in die Telefonzentrale der Geschäftsstelle in Horburg. Hier blieb er bis 2020. Fünf Tage in der Woche wurde René, der bis heute bei seinen Eltern in Leuna lebt, von einem Fahrdienst abgeholt und abends wieder zurückgebracht. In dieser Zeit wurde er erstmalig in den Werkstattrat gewählt – 2001 als einfaches Mitglied. In den folgenden vier Jahren nahm er an den regelmäßigen Sitzungen des Gremiums teil und erfuhr viel über die Sorgen und Nöte der Werkstatt-Mitarbeiter. Anfangs ging es fast immer um Persönliches: Ärger mit dem Gruppenleiter. Liebeskummer, Unzufriedenheit mit der Arbeit und vieles mehr.
„Wir haben uns alles angehört und dann versucht zu helfen.“ Gab es zum Beispiel Ärger mit einem Gruppenleiter, suchte der Werkstattrat das gemeinsame Gespräch für eine Lösung. Dabei war es besonders wichtig für René Lindner, Kompromisse zu finden, die von allen Betroffenen mitgetragen werden konnten. „Bei privaten Problemen“, so erinnert sich René Lindner, „half oft ein tröstendes Wort.“
Aber die Mitarbeiter trugen auch Verbesserungsvorschläge und Ideen an den Werkstattrat heran, die der Rat mit der Einrichtungsleitung dann beriet. So ging es einmal um kundenfreundlichere Arbeitszeiten in der Wäscherei. Grund: Oft war diese schon geschlossen, wenn Kunden ihre Wäsche abholen wollten. Vier Jahre bekleidete René Lindner das Ehrenamt im Werkstattrat. Dann setzte er für längere Zeit aus, um aber 2017 und 2021 erneut zur Wahl anzutreten. Er wurde gewählt – diesmal zum Vorsitzenden des fünfköpfigen Gremiums: „Für die drei Werkstätten sitzt jeweils ein Vertreter im Rat. Dann gibt es meinen Stellvertreter und mich als Vorsitzenden.“
Für diese ehrenamtliche Tätigkeit werden alle Ratsmitglieder von ihrer Arbeit freigestellt. Tatsächlich ist das Amt zeitintensiv. Einmal im Monat gibt es in den Werkstätten eine Sprechstunde für die Mitarbeiter. Außerdem fahren die Werkstatträte regelmäßig zu Seminaren und Schulungen. Der Vorsitzende nimmt dabei an Personalgesprächen teil, entscheidet mit. Er wird gehört, wenn Umbaumaßnahmen geplant sind. Außerdem reist René einmal im Jahr für Gespräche und Gedankenaustausch nach Halle zur Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte Sachsen-Anhalt (LAG/WR St.)
Gespräche mit der Geschäftsführung, Mitarbeitern und Betreuern stehen für René Lindner ebenso auf der Agenda, wie Besuche in anderen Werkstätten. Fast ein Fulltime-Job. „Es ist nicht damit getan, über bessere Löhne oder verbesserte Arbeitsmaßnahmen zu reden, es muss auch umgesetzt werden“, sagt René Lindner. Was oft durch Gesetze, Vorschriften oder an nicht vorhandenen Bedingungen scheitert. Dennoch gibt es viele Erfolge. So konnte der Rat zum Beispiel Raucherpavillons durchsetzen – „Nachdem sich unsere Mitarbeiter bereit erklärt hatten, die Beseitigung der Kippen zu übernehmen.“
Über alle Aktivitäten des Werkstattrates, Gespräche und Vorhaben informiert René Lindner die Mitarbeiter regelmäßig. Ein großes Thema ist derzeit die Frage, ob die Bezahlung an die Leistung geknüpft wird. „Viele Mitarbeiter wollen nicht mehr, dass auch diejenigen, die langsam arbeiten, trödeln, unpünktlich sind oder überhaupt nicht zur Arbeit erscheinen, den gleichen Lohn kriegen wie die zuverlässigen Mitarbeiter.“ Ein Konflikt, der allerdings nicht nur die Menschen in der Samariterherberge beschäftigt, sondern bei vielen Einrichtungen derzeit Thema ist. „Wir müssen noch ein dickes Brett bohren, um hier eine Lösung zu finden“, weiß René Lindner.
Bis 2025 läuft Lindners zweite Amtsperiode. In diese Zeit fiel auch ein beruflicher Wechsel: 2020 wechselte er von Horburg in die Zweigstelle Merseburg als Pförtner und Verantwortlicher für eingehende und ausgehende Post und Pakete. Diese berufliche Veränderung hat René Lindner nie bereut, sondern sich den neuen Herausforderungen gestellt – wie eben auch als Vorsitzender des Werkstattrats. Und, ob er nun von Leuna nach Horburg oder Merseburg gefahren wird, ist doch eigentlich egal, oder?