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Peggy Zeschmar
Gästebetreuerin, Veranstaltungs- und Tagungszentrum
„Schumanns Garten“
Weißenfels
„Die Dinge sind nie so, wie sie sind. Sie sind immer das, was man aus ihnen macht." – Jean Anouilh –
Wie ist das eigentlich, wenn von einem auf den anderen Tag das eigene Leben total auf den Kopf gestellt wird? Diese Frage hat sich Peggy Zeschmar (Jahrgang 1981) seit September 2002 immer wieder gestellt. Heute sagt sie: „Ich lebe jetzt ein zweites Leben. Das erste wurde mir genommen.“ 

Einst war Peggy aus Weißenfels ein völlig normales und gesundes Mädchen. Nach der Mittleren Reife lernte sie Köchin, hatte einen großen Freundeskreis. Am Wochenende zog Peggy mit ihrer Clique in Diskotheken oder ging mit Freunden ins Kino. Mit ihrer Mutter shoppte sie in Boutiquen oder sie genossen in einem Café Kaffee und Kuchen. Auch die Arbeit brachte ihr großen Spaß und sie schloss ihre Kochlehre erfolgreich ab. Dann stellte Peggy eines Tages fest, dass ihre Bewegungen unsicher wurden und sie auch Probleme mit ihrem Gleichgewicht hatte. Teilweise konnte sie sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Was damals niemand ahnte: Diese ersten Symptome bedeuteten den Anfang eines neuen Lebens für Peggy. Sie erinnert sich: „Ich bin sofort zum Arzt gegangen. Er hat mich direkt ins Weißenfelser Krankenhaus überwiesen." Hier lag die junge Frau drei Monate, wurde untersucht und beobachtet. Eine Diagnose konnten die Ärzte dennoch nicht stellen. Um die Ursachen für Peggys Zustand zu ergründen, wurde sie an eine Klinik in Zwickau überwiesen. Erneut wurde die Köchin auf Herz und Nieren untersucht. MRT, Röntgen, Blut-Untersuchungen, Gehübungen, um nur einige Beispiele zu nennen – die damals 21-Jährige machte alles mit, ließ alles über sich ergehen. Mit jedem Tag im Krankenhaus verzweifelte Peggy mehr und mehr: „Was ist bloß mit mir los?“ „Werde ich je wieder gesund?“ „Was ist passiert?“ „Warum kann mir niemand helfen?“ Gedanken, die Peggy ertragen musste. Damit nicht genug: Auch ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich fast von Tag zu Tag. Die junge Frau war völlig verzweifelt – mehr und mehr verlor sie die Kontrolle über ihren Körper. 

Im September 2002 erhielt Peggy dann ihre endgültige Diagnose, die ihrem vorherigen Leben ein Ende setzte: Spinozerebelläre Ataxie – eine unheilbare Erbkrankheit. Ursache dafür ist ein Gen-Defekt, den beide Eltern in sich tragen müssen. Während der Schwangerschaft wird er dann auf das ungeborene Baby übertragen. Bei einer Ataxie werden die Nervenzellen im Kleinhirn und Rückenmark sukzessive beschädigt. Die Folge: Die Koordinationsfähigkeit des Menschen wird immer stärker beeinträchtigt, bis er eigenständig keine Bewegungen mehr ausführen kann. Das ist vergleichbar mit einer fortschreitenden Demenz, nur dass hier nicht Gedächtnis und Logik leiden, sondern die Motorik. 

„Das war ein Schock, ein regelrechter Tiefschlag für mich. Wie sollte es weitergehen? Ich hatte nur einen Wunsch – wieder gesund werden.“ 

Nachdem Peggy ihre Arbeit als Köchin aufgeben musste, wurde sie 2004 EU-Rentnerin (EU: Erwerbsunfähigkeitsrente) und lebte bei ihren Eltern in Weißenfels. Ohne Arbeit, ohne Ziel. Viele Jahre hielt Peggy diesen Zustand aus, bis sie wieder begann, ihr Leben in die Hand zu nehmen und die Welt mit ihren Augen zu sehen. „Mir wurde klar, dass dieses Leben nicht alles für mich sein konnte. Es musste doch mehr geben“, erinnert sie sich. 

Also recherchierte Peggy im Internet und stieß auf die Seite der Werkstätten „Integra Weißenfelser Land“. Die Einrichtung wurde 1991 als freier Träger gegründet. Seitdem setzt sich Integra für die Rechte und Gleichbehandlung von behinderten Kindern und Erwachsenen in der Gesellschaft ein. Sofort nahm Peggy den Kontakt auf. Mit Erfolg. Endlich, am 1. August 2012 begann ein neues, selbstbestimmtes Leben für Peggy. Zunächst begann sie in den Betriebsstätten der Einrichtung mit dem Berufsbildungsbereich, der 27 Monate dauerte. So lernte die junge Frau mit dem freundlichen Lächeln, die unterschiedlichen Arbeiten kennen, die in den Integra-Werkstätten möglich sind. 
 
Bereits nach einem Jahr wechselte Peggy in den „Promenadenladen“ in Weißenfels, der zu Integra gehört. Hier werden Keramiken, Filz- und Holzprodukte verkauft, die von den behinderten Menschen in den Werkstätten der Einrichtung hergestellt werden.

Kunden beraten. Ware auspacken und auspreisen. Dekorieren. Regale aufräumen. Außerdem filzt Peggy – sie stellt Figuren, Handyhüllen oder kleine Blumen aus farbigem Filz her. Ihre Aufgaben sind vielfältig. „Das bringt mir Spaß und ich bin ständig mit anderen Menschen in Kontakt. Fünf Tage in der Woche, von 10.30 Uhr bis 15.30 Uhr."

Peggy wird morgens von ihrem Elternhaus von einem Fahrdienst abgeholt und am Nachmittag zurückgebracht. Im Promenadenladen und mit ihrer Arbeit blühte Peggy regelrecht auf: Sie gewann ihr Selbstbewusstsein zurück, übernahm Verantwortung und hatte wieder Freude am Leben. Dennoch wünschte sie sich mehr Abwechslung und eine zusätzliche Aufgabe. Als sie daraufhin 2016 von der Integra gefragt wurde, ob sie nicht auch Lust hätte, in der Gastronomie zu arbeiten, brauchte Peggy nicht lange für ihre Entscheidung. „Ich habe sofort zugesagt.“ Seitdem arbeitet Peggy zwei Tage in der Woche im Tagungs- und Veranstaltungszentrum „Schumanns Garten“ an der Rezeption. Das Veranstaltungs- und Tagungszentrum mit Übernachtungsmöglichkeit ist ein Teilbereich der Integra-Werkstätten.

Hier kümmert sich Peggy um die Belange der ankommenden und abreisenden Gäste. Sie gibt Schlüssel aus, nimmt die Anmeldeformulare an oder gibt Ausflugstipps. Auch der Telefondienst und Arbeiten am PC gehören zu Peggys Aufgaben. 

Anders als in der freien Wirtschaft, arbeiten Peggy und ihre Kollegen nicht in Vollzeit. Zudem werden die behinderten Menschen bei allen Tätigkeiten vom angestellten Fachpersonal, das rehabilitations-pädagogisch geschult ist, begleitet. Es stehen Werkstattleitung, Gruppenleiter und der begleitende Dienst bei Problemen, Sorgen oder Beschwerden als Gesprächspartner bereit. Ebenso wird psychologische Unterstützung angeboten.

 „Eine abwechslungsreiche und interessante Arbeit“, freut sich Peggy. Aber darum geht es nicht allein, denn die ehemalige Köchin zählt zu den Menschen, die einen gesetzlichen Anspruch auf berufliche Rehabilitation unter arbeitsmarktnahen Bedingungen haben. Dass dies möglich ist, ist den zahlreichen Werkstätten für Menschen mit Handicap in Sachsen-Anhalt zu verdanken.

Mittlerweile lässt sich Peggy auch nicht mehr von gesundheitlichen Rückschlägen komplett aus der Bahn werfen. Ein Beispiel: Bis 2021 bewegte sich Peggy mit einem Rollator und weigerte sich standhaft, einen Rollstuhl zu benutzen. Sie wollte unbedingt unabhängig und selbständig bleiben. Auch wenn ihr das Gehen mehr und mehr schwerfiel. Als sie eines Tages plötzlich mit dem Rollator stürzte, beschlossen die Betreuer in enger Abstimmung mit Peggy, dass sie künftig auch einen Rollstuhl nutzt, wenn sie unterwegs ist.

„Das war am Anfang nicht einfach für mich“, erzählt Peggy, „doch mittlerweile komme ich sehr gut zurecht.“ Dazu sagt Kristin Jedzig, Psychologin bei Integra: „Peggy ist ziemlich stabil. Es ist bewundernswert, wie sie ihr neues Leben angenommen hat, und dass sie sich nicht mehr unterkriegen lässt. Sie hat ihren Weg gefunden und will ihn gehen. Auch wenn das nicht immer einfach ist."

Ein Schicksalsschlag und nichts ist mehr, wie es einmal war. „Mein neues Leben ist nicht einfach, doch seitdem ich bei Integra bin, fühle ich mich angekommen und akzeptiert“, sagt Peggy. Die junge Frau im Rollstuhl überlegt einen Moment, fährt dann leise fort: „Es wäre schön, wenn sich alle Menschen bewusst wären, wie leicht das Schicksal unverhofft zuschlägt und alles verändert. Vielleicht würden sie dann öfter ein Auge auf Menschen wie mich werfen.“