„Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen." – Hermann Hesse –
Alles begann mit einer Stellenausschreibung, die in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung der Lebenshilfe in Tangerhütte aushing. „Die Hochschule Magdeburg-Stendal suchte Menschen mit Behinderung für ein Inklusionsprojekt an der Hochschule in Stendal“, erzählt Denise Schmidt (Jahrgang 1990).
Seit 2010 arbeitete sie damals bei der Lebenshilfe. „Nach der Schule habe ich ein Jahr zu Hause nichts gemacht“, erzählt die Rollstuhlfahrerin. Dann schlug die Sachbearbeiterin bei der Arbeitsagentur ihr vor, es doch bei der Lebenshilfe zu versuchen. Das klappte! Am 1. März 2010 fing Denise Schmidt in den Tangerhütter Werkstätten der Lebenshilfe Region Stendal an: „In den ersten drei Monaten lernte ich die verschiedenen Arbeitsbereiche kennen, bevor meine zweijährige Ausbildung im Berufsbildungsbereich begann.“ Fast gleichzeitig verließ Denise Schmidt ihr Elternhaus und zog in Stendal in eine betreute Wohngruppe der Lebenshilfe.
Nach den zwei Jahren begann die Rollstuhlfahrerin im Verpackungsbereich der Werkstatt. Hier wird verpackt, sortiert, foliert und konfektioniert – für die unterschiedlichsten Kunden: „Mal haben wir Kaffeeweißer foliert oder Babynahrung verpackt“, erinnert sich Denise Schmidt. Weitere Stationen, zum Beispiel die Näherei, folgten. Später, im Jahr 2017, begann sie im Sekretariat der Tangerhütter Lebenshilfe. Und dann hing da eines Tages die Stellenausschreibung. Der Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften suchte für das Projekt „Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt“ sechs Teilnehmer, die zu sogenannten Bildungsfachkräften ausgebildet werden sollten. Eines der Ziele: Das Bewusstsein der Studierenden an der Hochschule in Stendal für Inklusion zu erhöhen. Wer könnte das besser als Menschen mit Behinderung: „Wir können aus unserer Welt erzählen“, sagt Denise Schmidt, „Denn wir erleben die kleinen und großen Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen fast täglich.“ „Ich wollte unbedingt in den allgemeinen Arbeitsmarkt, raus aus der Werkstatt“, erinnert sich Denise Schmidt, die als geistig behindert gilt, „aber ich hatte Zweifel, ob ich auch wirklich die Richtige für den Job bin.“ Doch dann gab sie sich einen Ruck und schickte am letzten Tag der Bewerbungsfrist ihre Unterlagen ab. Es dauerte nicht lange und die damals 28-Jährige erhielt per Telefon eine Einladung zu einem persönlichen Gespräch. „Ich war natürlich ziemlich aufgeregt. Doch ich hatte nichts zu verlieren.“ Das Bewerbungsgespräch verlief optimal – Denise Schmidt wurde genommen und im März 2019 begannen sie und fünf andere Menschen mit Behinderung ihre Ausbildung zu Bildungsfachkräften an der Hochschule in Stendal.
Auf dem Lehrplan standen Themen wie zum Beispiel „Methodik in der Bildungsarbeit“ oder „dialogisches Arbeiten auf Augenhöhe“. Außerdem ging es für die „Studenten mit Behinderung“ um „Geschichte der Bildung“ oder es wurden von den Dozenten verschiedene deutsche Gesetze erörtert: das Grund- oder das Bundesteilhabegesetz zum Beispiel. Interessant: Während der Ausbildung wurden die angehenden Bildungsfachkräfte weiterhin von ihrer Werkstatt bezahlt und die Kosten für die Wohnung übernahm das Amt. Nach drei Jahren endete die Ausbildung mit einer Abschlussprüfung, die Denise Schmidt „problemlos bestand“, wie sie sagt.
Doch wie würde es weitergehen? „Wir wussten damals nicht, ob wir von der Hochschule fest angestellt werden. Die künftige Finanzierung des Projektes war noch nicht gesichert.“ Dennoch entschieden die neuen Bildungsfachkräfte und ihre Ausbilder: „Wir machen weiter wie bisher.“ Bereits während der Qualifizierung hatten sie mit Unterstützung der Dozenten und Lehrer, Seminare zum Thema Inklusion erarbeitet und durchgeführt. Und in die Werkstatt zurück wollte so richtig keiner von ihnen. Im Gegenteil, „jeder von uns sehnte sich nach einer Festanstellung.“
Diese Sehnsucht hatte am 15. Juli 2022 ein Ende: Denise Schmidt und ihre Kollegen wurden von der Hochschule angestellt, erhielten eine bestimmte Lohngruppe und bekamen ihre Arbeitsverträge. „Endlich war ich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angekommen und verdiene mehr als in der Werkstatt“, freut sich Denise Schmidt, die knapp 30 Stunden an der Hochschule arbeitet.“ Selbstverständlich muss sie nun für alle Kosten aufkommen – Miete, Essen und Trinken, Lohnsteuer, Krankenkasse etc. selbst zahlen, „aber das ist auch richtig so.“
Denise Schmidt ist in der freien Arbeitswelt angekommen. Sie und ihre Kollegen geben Seminare und halten Vorlesungen an der Hochschule. Doch für Denise Schmidt war es ein langer, oft steiniger Weg. Ein Weg, den bisher nur unter einem Prozent der Menschen mit Behinderung in Sachsen-Anhalt geschafft haben – trotz intensiver Bemühungen der Werkstätten im Land. Noch etwas beweisen Denise Schmidt und ihre Kollegen: Sie haben das inklusive Denken an der Hochschule in Stendal schon jetzt maßgeblich verändert; sei es bei Tischen für Rollstuhlfahrer, breiteren Gängen oder dem Verhalten von Studenten und Professoren.