„Alle Träume können wahr werden, wenn wir den Mut haben, ihnen zu folgen." – WaltDisney –
Eine blinde Frau, die Japanisch lernt, eine Radiosendung produziert, die Speisekarte lesen kann, ein eigenes Buch geschrieben hat oder Fremde mit Namen anspricht. Ist das möglich? Ja, ist es, wie Angela Steuer aus der Lutherstadt Eisleben beweist. Hier ist ihre Geschichte:
Geboren 1968 als Frühchen in der Lutherstadt Eisleben, erhielt sie während der künstlichen Ernährung zu viel Sauerstoff. Dadurch wurden die Sehnerven so schwer geschädigt, dass Angela blind wurde, ohne eine Chance auf Heilung. Als junges Mädchen kam Angela in Neue Mühle bei Königs Wusterhausen in eine Blindenschule mit angeschlossenem Internat. „Keine leichte Zeit“, wie sich Angela Steuer erinnert, „ich wäre lieber zu Hause geblieben.“ Während der Jahre in Neue Mühle erlernte Angela Steuer die Brailleschrift, mit der Blinde lesen. Bei dieser Schrift werden die Buchstaben durch ein Punkteraster dargestellt und ins Papier gedrückt.
Nach dem Realschulabschluss hätte Angela liebend gern als Telefonistin oder Stenotypistin gearbeitet, „doch da gab es für mich keine Möglichkeit.“ Stattdessen wurde die junge Frau in einen Montagebetrieb nach Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geschickt. Hier machte sie ihren Facharbeiter Metallurgie – eine Ausbildung, die für sie für ihre Tätigkeiten bei der Lebenshilfe in Eisleben von unschätzbarer Bedeutung ist.
Später, nach der Wende und mehreren Stationen in verschiedenen Werkstätten, überlegte Angela Steuer, in den freien Arbeitsmarkt zu wechseln: „Dafür habe ich in Halle an einer Beruf-Findungswoche teilgenommen. Ich wollte in einem Büro oder als Telefonistin arbeiten.“ Doch während der zwei Testwochen wurde Angela immer unsicherer, ob das der richtige Weg für sie sei: „Ich hatte durch meine Blindheit kaum Selbstbewusstsein und hatte Angst vor diesem Schritt“, erinnert sie sich. Dazu kam die Sorge, sich in der freien Wirtschaft nicht zu behaupten und arbeitslos zu werden. Also kehrte sie zurück zur „Lebenshilfe Mansfelder Land“ in Eisleben.
Hier arbeitet sie bis heute in der Werkstatt: Schokolade und Gewürze verpacken. Stecker zusammenbauen oder Lampen montieren. Für namhafte und unbekannte Firmen. Dank ihrer Facharbeiter-Ausbildung wird Angela Steuer oft um Rat und Unterstützung bei technischen Problemen gefragt. „Für mich ist aber entscheidend, dass ich Arbeit habe und nicht zu Hause rumsitze“, erzählt Angela. Zwar würde sie bei der Lebenshilfe auch gern mal in der Druckerei oder am Computer arbeiten, das scheitert, wie sie sagt, „aber leider noch an der Barrierefreiheit für Blinde.“ Doch sie ist nach wie vor zuversichtlich, dass sich hier etwas ändern wird. Ganz wichtig ist für Angela Steuer, dass sie die Fachkräfte der Lebenshilfe in ihren Interessen und Aktivitäten unterstützten. So konnte sie in der Vergangenheit ihre eigene Persönlichkeit immer weiterentwickeln und formen. Ein Beispiel: „Ich habe schon immer gern geschrieben. Texte, Gedichte, kleine Essays.“ Ihr Traum aber war immer, einen Roman zu Papier zu bringen. „Anfangs hielt ich das für unmöglich. Dann bestärkten mich eine Betreuerin der Lebenshilfe und Kollegen, die Idee in die Tat umzusetzen. Am 8. Dezember 2010 war es dann so weit. In einem kleinen Verlag erschien ihr erstes Buch „Constanze“. Auf 236 Seiten erzählt Angela Steuer die Liebesgeschichte einer jungen Frau, die nach dem Studium die Herausforderungen durch die Zuneigung zu einem älteren Professor meistern muss. „Sicher kein Bestseller“, lächelt die Autorin, „aber, dass das Buch zum Beispiel auch bei Amazon gelistet ist, macht mich schon ein wenig stolz.“ Und das Buch änderte auch die Welt von Angela Steuer: „Durch das Buch habe ich einen Mann bei der Lebenshilfe kennengelernt. Er arbeitet dort ebenfalls in einer Werkstatt. Wir sind seit mehreren Jahren zusammen. Im Moment suchen Mathias und ich eine Wohnung für uns.“ Bisher wohnt jeder allein in den eigenen vier Wänden. Mit Mathias ist Angela ständig auf Achse: Mal fahren sie gemeinsam in den Urlaub, oder sie besuchen das Deutsche Zentrum für barrierefreies Leben, die ehemalige Zentralbücherei der DDR für Blinde. „Hier“, so erzählt Angela Steuer, „haben wir schon sehr interessante Leute kennengelernt.“ Besonders viel sind Angela und Mathias aber in Eisleben unterwegs: Für ihr Radioformat Omott, das regelmäßig beim Bürgerradio HBW ausgestrahlt wird. Dafür erstellt das Paar interessante Nachrichten aus der Region, führt Interviews oder gibt Veranstaltungstipps. Mit Radio Omott sind sie aber nicht nur zu hören, sondern auch bei Facebook vertreten.
Wer nun denkt, dass Angela Steuer sich mit diesen Aktivitäten zufriedengibt, liegt komplett falsch. Nebenbei liest sie alles, was ihr zwischen die Finger kommt. Wird ein Titel nicht in der Blindenschrift herausgebracht, besorgt sich Angela das entsprechende Hörbuch. Nicht zu vergessen, Angelas Begeisterung für Fremdsprachen. Derzeit ist sie dabei, sich Japanisch beizubringen – über Audiosprachkurse. „Das ist etwas anderes als Englisch“, sagt sie, „aber sehr, sehr reizvoll für mich.“
Ein anderes Feld, auf dem Angela permanent unterwegs ist, sind technische Innovationen besonders für Blinde oder Sehgeschädigte. So erwarb sie vor zwei Jahren eine Brille mit einer Spezial-Kamera, die vorlesen kann: Behördenbriefe, Zeitungsartikel, Bücher. Aber auch Speisekarten, Einladungen oder Programmhefte. Kamera und Brille können aber noch mehr: „Wenn ich jemanden kennenlerne, macht die Kamera ein Foto von dem Betreffenden und er nennt seinen Namen. Den wiederhole ich. Wenn wir uns dann wiedertreffen, begrüßt die Kamera ihn oder sie mit meiner Stimme.“
Diese Kamera und die Brille sind viel mehr als ein „Spielzeug“. Tatsächlich trägt sie entscheidend mit zur Erhöhung der Lebensqualität von erblindeten oder sehgeschädigten Menschen bei. Die Liste von Angelas Tätigkeiten könnte noch weiter fortgesetzt werden: Auseinandersetzung mit dem Holocaust, klassische Musik, Ideen sammeln für ein weiteres Buch, recherchieren und arbeiten mit ihrem Spezialcomputer. Eins steht fest: Langeweile kennt Angela Steuer nicht. Im Gegenteil: Ihre Welt ist bunt, lebhaft, aktiv und von immer neuen Erlebnissen und Erfahrungen geprägt. Dass es so weit gekommen ist, ist mit ein Verdienst der Lebenshilfe. Sie unterstützt Angela seit Jahrzehnten in ihrer Kreativität und Neugier. Allen Widrigkeiten und Vorurteilen zum Trotz!