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Martin Berg
Vorstandsvorsitzender der BAG WfbM e. V.
Berlin
Frage 1: Seit vielen Jahren sind Sie als Vorsitzender beim BWMK tätig, einem Träger der unter anderem 1.200 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen an verschiedenen Standorten im Bundesland Hessen anbietet. 

Weiterhin engagieren Sie sich seit 15 Jahren im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen, der bundesweiten Interessenvertretung der Werkstätten. Sie verfügen somit über langjährige Berufspraxis und eine Vielzahl von Erfahrungswerten und Eindrücken im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderungen. 

Worin sehen Sie die Stärken der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen? Wofür stehen Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, aus Ihrer Sicht, in der heutigen Zeit? 

Werkstätten erfüllen keinen Selbstzweck, sondern sind ein Nachteilsausgleich. Da der allgemeine Arbeitsmarkt in seiner jetzigen Form nicht in der Lage ist, alle Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, sind Werkstätten weiterhin notwendig, um Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Ein Mensch mit Behinderungen hat Anspruch auf einen Werkstattplatz. 

Werkstätten sind kompetent in der Spezifikation der Ausführung von Arbeit und gleichzeitig in der Begleitung bei der Teilhabe am Arbeitsleben. Aus den vielfältigen Angeboten und der personenzentrierten sowie differenzierten Herangehensweise entsteht die Werkstattleistung.

Die besondere Stärke der Werkstätten liegt in der Rehabilitation und Befähigung durch wertschöpfende Arbeit. In der Werkstatt steht der Mensch im Fokus und weniger seine Arbeitsleistung. Die Arbeitsprozesse werden an den Menschen angepasst. Dabei wird die*der Beschäftigte von einer Fachkraft begleitet und kann aus diversen Arbeitsangeboten das für ihn passende Angebot finden und sich vielfältig ausprobieren. Hinzu kommt, dass in der Werkstatt die Möglichkeit besteht, über den Berufsbildungsbereich unterschiedliche Qualifizierungen zu erhalten. Lebenslanges Lernen ist ein wesentlicher Bestandteil der Förderung in Werkstätten. Des Weiteren werden sogenannte arbeitsbegleitende Maßnahmen angeboten, die die Beschäftigten auch während der Arbeitszeit in Anspruch nehmen. Die arbeitsbegleitenden Maßnahmen dienen der Persönlichkeitsentwicklung sowie der ganzheitlichen Gesundheitsförderung der Menschen mit Behinderungen und der sozialen Eingliederung.

Werkstätten tragen mit ihrer Erfahrung und ihrem Knowhow zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes bei.

Frage 2:  Einer Aufgabe über viele Jahre nachzugehen, bedeutet, Veränderungen und Weiterentwicklung mitzuerleben. Was würden Sie sagen: Wie haben sich Werkstätten für Menschen mit Behinderungen während der letzten Jahre verändert? Wie könnte sich eine Weiterentwicklung der Einrichtungen aus Ihrer Sicht fortsetzen? Welche zentralen Themen und Trends nehmen Sie wahr?

Viele Werkstätten haben die Entwicklungen durch die UN-Behindertenrechtskonvention und das BTHG erkannt. Menschen mit Behinderungen erwarten jetzt von den Werkstätten andere Leistungen als in der Vergangenheit. Viele Beschäftigte haben eine sehr differenzierte Vorstellung, wie sie arbeiten wollen und dabei begleitet werden möchten. 

Die meisten Werkstattträger haben erkannt, dass die Werkstatt kein Ort ist, an dem Qualifizierung endet. Werkstätten müssen in Zukunft noch stärker Durchlässigkeit und die Option der Weiterentwicklung und Fortbildung im Sinne der Wunsch- und Wahlfreiheit der Menschen mit Behinderung bieten. 

Die Stellung von Menschen mit Behinderungen ist durch die Gesetzgebung der letzten Jahre in einen neuen Fokus gerückt. Das Bild von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft hat sich positiv verändert. Die Interessenvertretungen und die Selbstvertretungen der Menschen mit Behinderungen haben in den letzten Jahren viel dazu beigetragen, dass mehr die Leistungen und weniger die Behinderungen der Menschen Beachtung finden.

Dem muss Rechnung getragen werden. Das sehen wir aktuell auch in der Debatte um ein neues Entgeltsystem. Die BAG WfbM setzt sich für eine gute gemeinsame Reformierung des Entgeltsystems ein, bei der gewissenhaft und umsichtig gehandelt sowie mit den Werkstattbeschäftigten gesprochen wird – und nicht über sie. Nur so können wir es schaffen, ein auskömmliches, transparentes und nachhaltiges Entgeltsystem im Sinne der Menschen in den Werkstätten zu erhalten.

Gleichzeitig müssen sich die Werkstätten aber auch an den aktuellen Verhältnissen des Arbeitsmarktes orientieren. Moderne Technologien erzeugen Veränderungen. Die Arbeitswelt stellt neue Ansprüche an Produkte und Dienstleistungen von Werkstätten. Die Digitalisierung gewinnt immer weiter an Bedeutung. Wir sollten diese Prozesse nicht aus den Augen verlieren. Wenn Träger sich als Unternehmen im Sozialraum verstehen, sind Veränderungsprozesse eher impliziert, als wenn nur die einzelne Werkstattleistung im Vordergrund steht. Kooperationen und Vernetzung sowie ein breiteres Denken in verschiedene Organisationsformen eröffnen mehr Chancen für Menschen mit Behinderungen.

Frage 3: Eine besondere Kompetenz und das Alleinstellungsmerkmal von Werkstätten bestehen darin, dass sie für jede und jeden in der Werkstatt beschäftigten Menschen ein adäquates Angebot zur Teilhabe am Arbeitsleben schaffen. Dabei werden Interessen und Neigungen, aber auch Stärken und Fähigkeiten eines jeden Menschen berücksichtigt. Eine sehr große Aufgabe, wenn man bedenkt, wie verschieden Menschen sind, die in den Werkstätten arbeiten. Viele Menschen haben Lernschwierigkeiten, andere arbeiten und leben mit psychischen Erkrankungen, manche Menschen haben körperliche Beeinträchtigungen. All diese Menschen kommen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen: einige von ihnen sind sehr jung, erkunden im Berufsbildungsbereich Stärken, Potenziale, Interessen und Neigungen, andere arbeiten seit Jahren oder Jahrzehnten in Werkstätten, wieder andere hatten einen Unfall oder eine Erkrankung und stehen vor der Aufgabe, ihr Leben neu zu ordnen. Welcher soziale Mehrwert ergibt sich hieraus? Was kann die Gesellschaft insgesamt daraus lernen?  

Es gibt viele Arten von Behinderungen. So vielfältig die Menschen sind, so vielfältig sind auch ihre Perspektiven. Und Perspektiven eröffnen bekanntlich Chancen. Das sollte in der Gesellschaft mehr erkannt werden. 

Vielfalt bedeutet aber auch, Wunsch- und Wahlmöglichkeiten bei der Teilhabe am Arbeitsleben zu schaffen. Werkstätten für behinderte Menschen ermöglichen Menschen mit Behinderungen in vielfältigen Bereichen individuelle Möglichkeiten der Arbeit, beruflichen Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Man könnte auch sagen: Werkstätten sind so vielfältig wie die Menschen, die dort arbeiten.

Werkstätten schaffen dementsprechend auch verschiedenste Begegnungsräume von Menschen mit und ohne Behinderungen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Aktionstag Schichtwechsel. Der Aktionstag Schichtwechsel bietet Teilnehmenden neue Perspektiven auf das Thema Teilhabe am Arbeitsleben und hilft dabei, Vorurteile abzubauen. Am 12. Oktober 2023 möchten wir gemeinsam mit Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes zeigen, dass Menschen mit Behinderungen ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind und Werkstätten nur gemeinsam mit anderen Unternehmen Inklusion vorantreiben können. Wir wollen ein starkes Zeichen für Offenheit und Vielfalt insbesondere in der Arbeitswelt setzen.

Ein persönlicher Wunsch wäre es, dass die allgemeine Öffentlichkeit stärker die Leistungen und Bedeutung der Werkstätten positiv anerkennt und die Werkstätten selbstverständlich Teil des sozialen Netzwerkes ihrer Region werden.

Frage 4: Eine große Stärke der Werkstätten besteht darin, Arbeitsprozesse so zu zergliedern, dass Menschen mit unterschiedlichen Stärken und Neigungen aber auch Unterstützungsbedarfen, Teil einer Wertschöpfungskette werden und somit berufliche Teilhabe und Selbstwertstärkung, aber auch einen Lebensinhalt durch Arbeit erleben können. 

Was könnte der Allgemeine Arbeitsmarkt von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen lernen? Was hat sich der Allgemeine Arbeitsmarkt an einigen Stellen bereits schon von Werkstätten abschauen können? Wie kann der Allgemeine Arbeitsmarkt unterstützen, das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen? Welche Möglichkeiten sehen Sie hier? Was würden Sie Arbeitgebern empfehlen, die Inklusion in Ihrem Unternehmen, gut durchdacht und nicht überstürzt, einen Weg bereiten möchten? 

Wir benötigen mehr Offenheit in der Gesellschaft und insbesondere bei den Unternehmen, Menschen mit Behinderungen einzustellen. In vielen Unternehmen ist ein*e Mitarbeitende*r mit Behinderungen etwas Besonderes. Mit Vielfältigkeit kann man Unternehmen jedoch ungemein bereichern. Durch Menschen mit Behinderungen in Unternehmen kann ein anderer Fokus auf das Miteinander in einem Unternehmen gesetzt werden. Häufig sind Unternehmen durch die vielen Herausforderungen, die auf sie einströmen, sehr stark eingebunden. Da ist wenig Zeit für soziale Aspekte und für die Einstellung auf individuelle Bedürfnisse eines Menschen mit Behinderungen. Oft wird gesagt: „Darum können wir uns nicht auch noch kümmern.“ Der Arbeitsmarkt braucht deswegen mehr Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen und eine neue Art der Leistungsbewertung. Werkstätten können mit ihrem Know-how und ihren Erfahrungen hierbei einen wichtigen Beitrag leisten.

Es sollte zukünftig nicht mehr nur auf die gängigen Schlüsselqualifikationen einer*s Mitarbeitenden – wie Ausbildung und andere erworbene Kompetenzen – ankommen, sondern darauf, welche Kompetenzen der einzelne Mensch als Individuum mitbringt. Werkstätten sind durch ihre personenzentrierte Förderung von Menschen mit Behinderungen sehr gut darin, diese Kompetenzen herauszuarbeiten und auf die Person zugeschnittene Angebote zu finden.

Ich glaube, dass auch Unternehmen und jede* Einzelne eine Verpflichtung hat, an einer inklusiven Gesellschaft mitzuwirken. An dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe müssen sich alle beteiligen, sowohl Sozialunternehmen als auch Industrie, Handwerk und die Verwaltungen.