„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft hat schon verloren." – Berthold Brecht –
Er kam nach der Nachtschicht nach Hause und besuchte mit Freunden eine Shisha-Bar – „auf ein Bier“´, wie er sich erinnert. Als er vom Tresen zurückkehrte, hing ein Mundwinkel herunter und er schwitzte „wie verrückt.“ An mehr erinnert sich der Junge Mann aus Halle nicht mehr. „Nur, dass ich dann im Krankenhaus aufwachte, und überhaupt nicht wusste, warum. Und gleichzeitig spürte, dass mein bisheriges Leben vorbei ist“, erzählt Steven Werner.
Tatsächlich - in jener Nacht vom 28. Mai vor einigen Jahren änderte sich für den ausgebildeten Krankenpflegehelfer alles. Wirklich alles! Dabei hätte der junge Mann in jener Nacht auch sterben können! Doch eine Freundin, die sah, dass sich Steven in der Bar schlagartig veränderte, und sofort den Notarzt rief, rettete ihm das Leben. Mit Verdacht auf Schlaganfall wurde Steven Werner blitzschnell in die nächste Klinik zur Erstbehandlung transportiert. Erst später erfuhr er, dass ein Aneurysma in seinem Kopf zu starken Blutungen geführt hatte, die den schweren Schlaganfall auslösten.
Steven Werner ist ein Silvesterkind, denn er kam am 31. Dezember 1987 in Halle auf die Welt. Er durchlebte eine völlig normale Kindheit, war kerngesund, trieb Sport – besonders gern Fußball – ging gerne Angeln oder kümmerte sich um seine jüngeren Geschwister Philipp und Lara. Nach dem Abschluss der Schule absolvierte Steven ein „Freiwilliges Soziales Jahr“ (FSJ) in der Hallenser Seniorenresidenz „Am Hufeisensee“. „Eigentlich wollte ich in dem Haus auch eine Ausbildung zum Altenpfleger anschließen“, erzählt Steven Werner, „aber es gab keine Stelle für mich." Also verdiente er sich vorerst als ungelernte Pflegekraft sein Geld. Doch dann klappte es in einer anderen Einrichtung und 2013 bestand er seine Prüfungen zum „Gesundheits- und Krankenpflegehelfer“. Zwei Jahre später wechselte er zu einer Zeitarbeitsfirma, die Pflegekräfte vermittelte und auch „besser zahlte.“ Was Steven Werner nicht ahnte, dass die Art und Weise, wie er sich in die Arbeit einbrachte, letztendlich mitverantwortlich für den Schlaganfall war.
Nanu? „Ich habe fast ausschließlich Spät- oder Nachtschichten geschoben“, erzählt er, „und mich in dieser Zeit höchst ungesund ernährt.“ Burger, Pommes, Tütensuppen, Fertiggerichte und Süßigkeiten. Das hatte massives Übergewicht zur Folge: In der Schlaganfall-Nacht brachte Steven Werner 145 Kilogramm auf die Waage…
Möglicherweise war das Übergewicht ein Grund mit dafür, dass der Hirnschlag Steven Werner so schwer traf, dass er ins künstliche Koma gelegt werden musste, um überhaupt eine Überlebenschance zu haben: „Das habe ich erst alles später erfahren und auch dann noch nicht richtig realisiert“, erinnert er sich, „ich wollte nur leben, egal wie!“
Doch, das war nicht so einfach: Der Schlaganfall führte zu einer fast kompletten linksseitigen Hemiparese – also Lähmungen der Extremitäten. Zusätzlich wurden weitere Nervenzellen und Teile im Hirn zerstört, sodass Stevens Erinnerungsvermögen, die Sprache und anderes erheblich eingeschränkt waren. Deshalb wurde Steven Werner nach dem Krankenhausaufenthalt sofort in die Reha überführt, damit die starken motorischen und kognitiven Einschränkungen wieder verbessert werden konnten. Ein langer Gang…
Schwimmtherapie, Computertraining, Therapieknete, Massagen, Fahrradfahren, Hanteltraining, Gehen mit Krücken oder Stock sowie Erinnerungsübungen – sind nur einige Beispiele aus Steven Werners Rehamaßnahmen. „Nach dieser ersten Maßnahme kam ich dann für drei Monate ins Neurologische Zentrum Magdeburg, wieder eine Rehaklinik.“ Neben weiteren Maßnahmen für motorische und kognitive Fähigkeiten, sollte herausgefunden werden, „ob ich jemals wieder arbeiten kann.“ Das Ergebnis war für Steven Werner niederschmetternd: „Das würde nichts werden, hieß es, meine Einschränkungen seien insgesamt zu stark, als dass ich für eine normale Arbeit infrage käme.“ Als Empfehlung gaben die Ärzte dem Schlaganfall-Patienten mit auf den Weg, sich an eine Werkstatt für behinderte Menschen zu wenden. „Ich wusste überhaupt nicht, was die machen, hatte nur die üblichen Klischees im Kopf und nur eine körperliche Behinderung“, gibt Steven Werner ehrlich zu. Doch die Evangelische Stadtmission in Halle, die in verschiedenen Werkstätten Menschen mit Behinderung vielfältige Arbeit ermöglicht, überzeugte ihn schnell vom Gegenteil: „Ich durfte erkennen, dass viele Menschen, die eine Behinderung haben, trotzdem viel im Kopf haben“, erzählt er begeistert. „Also begann ich am 3. April 2018 mit meinen zwei Ausbildungsjahren im Berufsbildungsbereich (BBB) und arbeitete an den unterschiedlichsten Plätzen. Das war nicht nur spannend, sondern half auch immens, meine kognitiven Fähigkeiten zu verbessern.“ Auch die Motorik kehrte immer mehr zurück: „Intensives Training, Disziplin bei den Übungen, viel Geduld und regelmäßige Spaziergänge sind zwar nach wie vor nötig. Dafür humpele ich mittlerweile nur noch leicht und bewältige immer längere Strecken ohne Pause.“
Je mehr sich Steven Werner körperlich und kognitiv besser fühlte, umso stärker wurde sein Drang, die Werkstatt zu verlassen und wieder komplett auf eigenen Beinen zu stehen: „Ich hatte in der Werkstatt viel mit Computern und Mediengestaltung zu tun, arbeitete mit komplizierten Programmen und modernen Maschinen. Wenn das klappt, schaffe ich es auch in der freien Wirtschaft. Davon war ich überzeugt.“ Als er dann auch noch erfuhr, dass eine gute Bekannte aus gemeinsamen Zeiten sich in der Pflege und der Alltagsbegleitung selbständig machen wollte, bewarb er sich um einem Praktikumsplatz. Steven Werner wurde genommen. In den nächsten Monaten erlernte und erledigte er die üblichen Büroarbeiten: Telefonannahme, Terminverwaltung und -vereinbarung, Archivierung oder Aktenkontrolle – eben alles, was in einem kleinen Unternehmen anfällt.
Und Steven Werner hat jetzt die große Hoffnung, dass er demnächst fest angestellt wird und er dann „mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge, die Werkstatt verlassen kann.“ Fazit: Steven Werner aus Halle beweist, dass ein Schlaganfall oder eine andere Behinderung, noch lange kein Grund sind, „die Flinte ins Korn zu schmeißen.“ Im Gegenteil: „Wer nicht kämpft hat schon verloren“ – dieses Motto gilt nicht nur für Steven Werner, sondern für alle Menschen, die urplötzlich einen anderen Lebensweg einschlagen müssen.