Achtung verdient, wer vollbringt, was er vermag! – Sophokles –
Er besitzt den Kettensägenschein und ist begeisterter Hobbymaler. Er besitzt die Berechtigung zum Gabelstaplerfahren und scheut sich vor keiner Arbeit. Dennoch fand René Rackebrandt aus Aspenstedt nie einen Ausbildungsplatz, geschweige denn eine Festanstellung in einer Firma oder einem Unternehmen.
René gilt seit seiner Kindheit als Mensch mit Behinderung Er hat eine Intelligenzminderung und zeigt Störungen im Sozialverhalten. Deshalb besuchte der Junge auch eine Schule für Kinder mit Lernbehinderung in Halberstadt. Jahre später – vor seinem Eintritt ins Berufsleben – wurde René im Auftrag des Jobcenters von einem Psychologen begutachtet. Er kam zu dem Ergebnis: René ist für den Allgemeinen Arbeitsmarkt nicht geeignet. Ein Trugschluss, wie sich zeigen sollte, denn René arbeitet seit Februar in einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb mit Hofladen. Alles zusammengefasst unter dem Firmennamen „Harzer Genusswerk“.
Noch ist es ein sogenannter Außenarbeitsplatz, der von einem Werkstatt-Träger finanziert wird. Das kann René jederzeit beenden und sich von seinem Chef, Erik Odenbach, fest anstellen lassen. Zufall oder Glück? René Rackebrandt und der drei Jahre ältere Erik Odenbach kennen sich seit vielen Jahren.
Sie spielten als Kinder zusammen und verbrachten viel Zeit miteinander. „Wie es früher auf dem Dorf eben war“, sagt Erik Odenbach, „jeder kannte jeden.“ Mit den Jahren verloren sich die Männer aber aus den Augen: Erik Odenbach beendete seine Ausbildung als Koch und arbeitete ab 2007 in der Sommersaison an der Ostsee oder stand in der Heimat am Herd.
Im gleichen Jahr kam René Rackebrandt in die Diakonie-Werkstätten Halberstadt und begann mit einer berufsbildenden Maßnahme: In den folgenden zwei Jahren probierte und testete er in den verschiedenen Werkstätten und Arbeitsbereichen, welche Tätigkeiten ihm am meisten liegen würden. Schon nach kurzer Zeit wusste René, dass er nach den beiden Jahren in die Tischlerei wechseln würde. „Mit Holz zu arbeiten, ist etwas ganz Besonderes“, sagt er, „ein Schrank aus Fichte ist doch etwas Edles. Oder ein Gartenzaun aus Fichte oder Kiefer.“ Außerdem besuchte er mit Begeisterung Kunden der Werkstätten und kümmerte sich um Spezialaufträge.
Außerdem absolvierte er im Rahmen der internen Qualifizierung in der Werkstatt einen Lehrgang für den Umgang mit Kettensägen und erwarb den Gabelstaplerführerschein. Am Dorfleben in Ströbeck beteiligte sich René ebenfalls. Und er ging einem ungewöhnlichen Hobby nach: Wann immer es möglich war, unterstützte er Udo Odenbach, den Vater von Erik, auf dem Hof und half beim Schlachten mit.
So gingen die Jahre ins Land: René wurde in der Tischlerei zu einem unersetzlichen Kollegen. Darüber hinaus sorgte er mit seiner humorvollen und charmanten Art für ein sehr gutes Betriebsklima. Eines Tages, René war gerade beim Rasen mähen, als Erik Odenbach aus dem familieneigenen Hof im Schachdorf Ströbeck trat: „Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass mein früherer Spielkamerad auf unserem Hof arbeitet.“
Klar, dass die beiden Männer ein Bierchen tranken und in Erinnerungen schwelgten. Erik Odenbach hatte acht Jahre in Dresden als Stellvertreter des Mensaleiters gearbeitet, beschloss aber während der Corona-Pandemie wieder nach Hause zu kommen: „Auf einem Dorf lebt es sich ruhiger. Außerdem wollte ich unseren Hof übernehmen und meine Eltern entlasten.“
Durch die Rückkehr des früheren Freundes änderte sich auch für René eine Menge: Er kam öfter auf den Familienhof der Odenbachs und erledigte alle Arbeiten, die auf einem landwirtschaftlichen Hof eben anfallen. Nun kamen ihm auch seine Zusatzqualifikationen zugute, denn fortan kümmerte er sich unter anderem auch um das Brennholz für die Familie. Am liebsten aber unterstützte er Erik Odenbach, wenn geschlachtet wurde: „Ich habe schon bei meiner Oma mitgeholfen“, erzählt René Rackebrandt, „also war es für mich selbstverständlich, Erik ebenfalls zu unterstützen.“ Diese Unterstützung war auch deshalb möglich, da René seit vielen Jahren einen Gesundheitspass besitzt. Das Dokument berechtigt, beim Schlachten mitzuarbeiten. Und in der Werkstatt verabschiedete sich Renè nach Feierabend immer öfter mit den Worten: „Ich geh jetzt zu meinen Leuten im Dorf und helfe beim Schlachten.“
Nun war deutlich zu erkennen: René fühlt sich auf dem Hof nicht nur wohl, sondern spürte wohl auch, dass er auf dem freien Arbeitsmarkt eine Chance hätte. So kam es, dass Erik Odenbach gemeinsam mit der Diakonie und René über eine mögliche Festanstellung sprachen.
Geschäftsführerin Sandra Giebel: „Dafür gibt es sogenannte Außenarbeitsplätze. Das bedeutet diese Mitarbeiter werden in einen Betrieb integriert und arbeiten dort, ohne dass ein Gruppenleiter dabei ist. Dieser kommt je nach Bedarf des Mitarbeiters vorbei, erkundigt sich, ob alles in Ordnung ist oder ob es Probleme gibt. Aber ansonsten lernt derjenige, sich allein zu behaupten.“
In den Diakonie-Werkstätten Halberstadt sind derzeit gut 60 Personen an einem Außenarbeitsplatz eingesetzt.
Sandra Giebel: „Bei diesen Stellen schließt der Arbeitgeber einen Vertrag mit uns ab. Wir zahlen weiterhin das Werkstattentgelt und die Versicherungsbeiträge.“ „René ist zuverlässig, arbeitet gut und integriert sich hervorragend in unseren Familienbetrieb. Wir haben ihm bereits jetzt die Mitverantwortung für das Brennholz übertragen – er hat doch einen Kettensägenschein“, lobt Erik Odenbach seinen neuen Mitarbeiter.
Würde er noch weiteren Menschen mit Behinderung eine Chance geben und sie einstellen? „Wenn die Person zu uns passt und gute Arbeit macht – warum nicht.“
Zunächst aber arbeitet René fast vier Tage in der Woche im Harzer Genusswerk. Nur am Donnerstag kehrt er zurück in die Tischlerei: „Um mit Holz zu arbeiten und um den Kontakt zu den Kollegen nicht zu verlieren.“ Zum Abschied vertraut René uns an: „In fünf Jahren will ich meinen Vertrag direkt mit Erik abschließen und fünf Tage in der Woche arbeiten.“