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Anica Jäger
Klangspezialistin 
Integra Weißenfelser Land gGmbH
Weißenfels
„Wir müssen bereit sein, uns von dem Leben zu lösen, das wir geplant haben, damit wir das Leben finden, das auf uns wartet." – Oscar Wilde –
Ruhig liegt Anica in einem großen Rollstuhl. Ihr Mund ist leicht geöffnet, der Atem geht ruhig. Neben Anica sitzt ihre Mutter Betty und streichelt sanft über die Hände ihrer Tochter. Das Mädchen sieht sehr jung aus – geschätzt 16 Jahre. Aber der Eindruck täuscht: Anica hat bereits das 30. Lebensjahr vollendet. Für viele Ärzte ist das ein kleines Wunder, denn Anica leidet seit ihrer Geburt an schwerer „Infantiler Zerebralparese“. Das bedeutet: Anicas Nervensystem hat sich nie weiterentwickelt. 

Ihre frühkindlichen Reflexe bestehen bis heute – sie ist faktisch gelähmt, kann sich nicht eigenständig fortbewegen oder in irgendeiner Form autonom agieren. Auch Anicas Gehirn hat sich seit dem Baby-Stadium nicht weiterentwickelt. Sie kann weder sprechen, agieren oder körperliche Aktivitäten einleiten und ist wahrscheinlich seit der Geburt auch erblindet. 

Anica ist ein Intensivpflegefall, ist rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen. Damals, 1989, als Anica nach einer Gehirnblutung in Naumburg sechs Wochen zu früh das Licht der Welt erblickte und sofort in eine Kinderklinik nach Halle verlegt wurde, ahnte Babette Jäger nicht, dass ihre Tochter schwerstbehindert ist: „Mir wurde nur gesagt, dass es bei Anica während der Schwangerschaft zu einer Gehirnblutung gekommen sei und sie deshalb in Halle genauer untersucht werden müsse.“

Damals, wenige Monate vor dem Zerfall der DDR, war es nicht üblich, dass Mütter bei ihren Babys blieben oder telefonisch ständig auf dem Laufenden gehalten wurden. Im Gegenteil: Babette Jäger wusste zwar, dass ihre Tochter mit nur 1970 Gramm auf die Welt gekommen war, mehr aber auch nicht.
Umso schlimmer war es für die junge Mutter, die als Sekretärin beim Rat des Kreises arbeitete, als die Ärzte ihr die Diagnose mitteilten und meinten, dass Anica sicher nicht älter als drei Jahre werden würde. „Ich konnte es nicht begreifen, es war, als ob die Welt aufhören würde, sich zu drehen“, erinnert sich Babette Jäger. Gleichzeitig spürte sie jedoch eine unendlich große Liebe für ihr erstes Kind: „Es war für mich keine Frage, dass ich alles unternehmen würde, um für Anica da zu sein, um ihr ein Leben in Würde zu ermöglichen.“ Als Erstes ließ sich Babette Jäger für drei Jahre von Ihrem Job freistellen, um sich ihrer Tochter zu widmen. Das wurde dann noch einmal zwei Jahre verlängert. Was in den Wirren nach der Wende nicht so ganz einfach war: „Alles war im Umbruch. Die Menschen hatten andere Dinge im Kopf, als mich zu unterstützen.“

Auch ihr Ehemann kam mit der Situation nicht zurecht, lehnte Anica innerlich ab. Das führte zu großen Spannungen in der kleinen Familie. Auch eine zweite Tochter, die 1997 zur Welt kam, konnte die Ehe nicht mehr kitten: 1998 verließ der Mann die Familie, im Jahr 2000 wurde die Ehe geschieden. Also zu einer Zeit, in der sich in der ehemaligen DDR bereits das Leben normalisiert und den geänderten Bedingungen angepasst hatte. Dennoch war nicht alles Gold, was glänzte: „Ich kann mich gut daran erinnern, dass es schwer war, den Behindertenstatus für Anica zu bekommen. Ein Arzt vom medizinischen Dienst meinte sogar, wir würden versuchen, durch Anica unberechtigte Leistungen zu bekommen.“ Erst als eine zweite Ärztin hinzugezogen wurde, die sofort erkannte, wie krank das kleine Mädchen ist, floss die entsprechende finanzielle Unterstützung. Auch erhält Anica seitdem zu Hause regelmäßig Physiotherapie, zweimal die Woche – vom ersten Tag an immer von der gleichen Therapeutin. Mittlerweile 33 Jahre.  Während Anicas Schulzeit erhielt sie zusätzlich Schwimm- und Reittherapien. 

Mit vier Jahren besuchte Anica dann den integrativen Kindergarten Regenbogen in Naumburg. Als Anica schulpflichtig wurde, wechselte sie mit sieben Jahren auf die Käthe-Kruse-Schule für geistig behinderte Mädchen und Jungen. Das war nicht ganz einfach, denn Anica wehrte sich durch lautes Schreien und Weinen gegen die Veränderung. Mit zehn Jahren versagte bei Anica plötzlich die Leber – sie musste in ein künstliches Koma gelegt werden. Auch in dieser Situation ahnte Anica wohl, dass etwas Unbekanntes auf sie zukommen würde und wehrte sich mit der einzigen Möglichkeit, sich zu äußern - mit Schreien und Tränen. 

Ähnlich reagierte Anica bei anstehenden, zwingend notwendigen, orthopädischen Operationen an ihrer Hüfte oder ihren dysfunktionalen Knien: „Vor jedem Termin bekam Anica hohes Fieber und der Eingriff musste verschoben werden.“ Für Anicas Mutter ein eindeutiger Beweis, dass Anica in einer eigenen Welt – von der wir kaum etwas wissen – lebt. Interessant auch: Anica reagiert sensibel auf Geräusche und Töne – mal entspannt, mal gereizt oder „genervt“. Ihren Unwillen artikuliert sie durch Schreien, ihre Zustimmung durch ein sanftes Lächeln. Allen Widrigkeiten zum Trotz, ließ sich Anicas Mutter aber nicht von ihrem Weg abbringen: Sie nahm Anica überall mit hin, ob zum Einkaufen, ins Kino oder beim Spazierengehen. „Am Anfang haben mich die empörten oder mitleidigen Blicke von anderen Menschen noch gestört, mittlerweile ist mir das egal.“ Allein betreuen, allein pflegen – Anicas Mutter richtete ihren Alltag, ihre Gedanken und Gefühle immer auf Anica aus. Bis heute – doch mittlerweile ist einiges einfacher geworden: Mit dem Ende der Schulpflicht wechselte Anica in eine Fördergruppe der Werkstätten für behinderte Menschen der Integra Weißenfelser Land gGmbH. Die Förderbereiche sind das „verlängerte Dach“ der Werkstätten und offerieren tagesstrukturierende Angebote für Menschen mit Schwerbehinderung, welche nicht, noch nicht oder nicht mehr die Fähigkeiten besitzen, im Berufsbildungs- oder Arbeitsbereich der WfbM tätig zu sein.

In jeder Gruppe unterstützt ein Team aus zwei Betreuern professionell und liebevoll maximal sechs Personen mit schweren Behinderungen. Fünf Tage in der Woche, von 7.00 bis 14.30 Uhr. In dieser Zeit bekommt Anica Ergo- und Hundetherapie. Natürlich machte Anica ihren Unwillen über diese Veränderung auch wieder mit lautem Geschrei und Weinen deutlich. Damit konnte kaum eine Betreuerin umgehen, alle Versuche Anica zu beruhigen, scheiterten. Erst als eine resolute Kollegin Anica energisch widersprach, sie sogar zurechtwies, beruhigte sich die junge Frau. Seitdem gibt es keine Probleme mehr. 

„Anica wird in der Gruppe gehegt und gepflegt“, erzählt ihre Mutter, „ihr geht es dort so gut, dass sie kaum noch unter epileptischen Anfällen leidet oder spontane Erkrankungen aufgetreten sind.“ Doch dann kam das Corona-Virus, das auch Anica befiel. Seitdem wird ihre Lunge nicht mehr ausreichend durchlüftet und muss zusätzlich mit Sauerstoff versorgt werden. In Zusammenarbeit mit der Integra Weißenfelser Land gelang es, dass Anica und ihrer Mutter zum ersten Mal eine Mutter-Kind-Kur am Steinhuder Meer bewilligt wurde. „Das hätte ich allein nicht geschafft“, erzählt Babette Jäger, „meine Anträge wurden abgeschmettert.“ 

Die tägliche Betreuung bei Integra hat aber nicht nur das möglich gemacht, sondern auch vieles im Leben der liebevollen Mutter verändert: Sie hat endlich mehr Zeit für sich selbst, ging zeitweise sogar arbeiten, findet aber seit Corona keine Stelle mehr. „Das bedauere ich, aber durch Anica habe ich gelernt, dass bestimmte Dinge eben nicht zu ändern sind.“ So wie der Entschluss der orthopädischen Abteilung des Waldkrankenhauses in Eisenberg: „Mit Corona wurde mir mitgeteilt, dass Anica, die dort alle sechs Monate untersucht und auch immer wieder operiert wurde, als Patientin nicht mehr behandelt wird. Gründe wurden nicht genannt. Ich bekam keine Termine mehr. Und wenn ich nachfragte, hieß es lediglich, ich soll mich an einen anderen Orthopäden wenden.“ Eine Entscheidung, die Anicas Mutter sehr belastet hatte, heute jedoch nur einen Moment traurig stimmt. 

Dank Anica und der moralischen Unterstützung der Mitarbeiter der Integra. Sie stehen hinter Anica und ihrer Mutter, die sich ein Leben ohne ihre Tochter nicht mehr vorstellen kann und will: „Manchmal weiß ich nicht, was ich machen soll, wenn sie nicht daheim, sondern in der Fördergruppe ist.“ Eine Gruppe, die beweist, dass jeder Mensch ein Recht auf sein eigenes Leben hat – und sei es vielleicht in einer Welt, die sich vom gesellschaftlichen Alltag unterscheidet und uns unbekannt ist.